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Handelsverband Journal RETAIL 1/2019

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Handelsverband Journal RETAIL 1/2019

— lebensmittel

— lebensmittel lebensmittel Über Herkunft und Produktionsbedingungen von Produkten im Lebensmitteleinzelhandel wird viel gesprochen und debattiert. In einem ebenso wichtigen Bereich ist das Bewusstsein weit weniger fortgeschritten: in der Gemeinschaftsverpflegung. Österreichs Großküchen versorgen Schätzungen zufolge 1,8 Millionen Menschen pro Tag. Beim Lebensmitteleinkauf wollen es viele genau wissen, aber in der Kantine? Österreichs Tierschutz-, Umwelt- und Sozialstandards sind so hoch wie in kaum einem anderen Land. Der Lebensmitteleinzelhandel setzt in vielen Bereichen auf österreichische Herkunft und ergänzt eigene Standards. Auch manche Gemeinschaftsverpfleger achten beim Einkauf darauf, wo die Lebensmittel herkommen und wie sie erzeugt wurden. Eine Herkunftskennzeichnung ist in diesem Bereich aber weder verpflichtend noch üblich, auch nicht in der öffentlichen Beschaffung. Einrichtungen von Bund, Ländern und Gemeinden müssen etwa das Bundestierschutzgesetz und die Tierhaltungsverordnung beim Lebensmitteleinkauf nicht beachten. In Österreich dürfen zum Beispiel maximal 40 Kilo Puten pro Quadratmeter Stall gehalten werden. Eine öffentliche Einrichtung darf aber Putenfleisch kaufen, das aus einem Land kommt, wo Puten legal weniger Platz hatten und billiger erzeugt wurden. Auch die eigenen, österreichischen Sozial- und Umweltstandards müssen nicht unbedingt eine Rolle spielen. Das Vergaberecht untersagt, dass Ausschreibungen auf eine bestimmte Herkunft abzielen. Eine öffentliche Einrichtung darf etwa nicht ausschreiben, dass Eier aus Österreich sein müssen. Erlaubt sind Kriterien, die theoretisch alle einhalten könnten, zum Beispiel „gentechnikfreie Fütterung“ oder „Eier aus Bodenhaltung“. Solche Kriterien würden österreichische Erzeuger zumindest nicht gegenüber jenen benachteiligen, die in Ländern wie der Ukraine Hennen legal in Käfigen halten und viel billiger produzieren können. Von wem die öffentliche Einrichtung dann tatsächlich kauft, entscheidet sie nicht nur nach dem Preis. Auch Qualitätskriterien, die dem Gemeinwohl dienen, dürfen eine Rolle spielen. Um den Einkaufsprozess zu vereinfachen, gibt es die Bundesbeschaffungsgesellschaft, kurz BBG. Diese betreibt einen großen Onlineshop, das Einkaufsportal e-Shop. Öffentliche Einrichtungen können Waren auswählen, die bereits rechtskonform ausgeschrieben wurden und für die bereits ein Anbieter ausgewählt wurde. Die BBG bietet nicht immer nur eine Variante an, sondern beispielsweise Lebensmittel aus konventioneller und Bio-Landwirtschaft, aus denen die öffentlichen Einrichtungen wählen können, soweit dies ihr Budget erlaubt. Würden die Essenden in Einrichtungen wie Betriebskantinen und Krankenhäusern die Lebensmittelherkunft erkennen, wäre auch die Chance für eine aktive Nachfrage nach Ware aus Ländern mit hohen Standards größer. Die Herkunft muss derzeit weder in öffentlichen noch in privaten Einrichtungen gekennzeichnet sein. Finnland will das ändern. Zunächst entscheidet aber die EU-Kommission, ob eine solche Vorschrift überhaupt zulässig ist. Die österreichische Regierung könnte dann nachziehen. Laut dem Regierungsprogramm für 2017 bis 2022 soll es für die Gemeinschaftsverpflegung eine „verpflichtende nationale Kennzeichnung der Lebensmittelherkunft“ geben, während für die Gastronomie nur ein „Anreizsystem zur Herkunftskennzeichnung von Fleisch und Eiern“ vorgesehen ist. Auf seiner Webseite www.landschafftleben.at und in einer dreiteiligen Videoreihe thematisiert Land schafft Leben kritische Punkte rund um Gemeinschaftsverpflegung in Österreich. Infografiken von www.landschafftleben.at/Quelle Georg Frisch 2016 und Statistik Austria 2018 (Werte gerundet)/©Land schafft Leben 2018 14 — April 2019

— storys Die wahren Kosten sind versteckt Was kosten unsere Lebensmittel wirklich? Bei Einbeziehung der ökologischen und gesamtgesellschaftlichen Folgekosten müssten die Preise erheblich höher sein, als sie es derzeit sind – Bioprodukte hingegen stünden vergleichsweise besser da. „ Aus volkswirtschaftlicher Sicht haben wir es mit einer beträchtlichen Preis- und Marktverzerrung zu tun“, erklärt der Volkswirt Tobias Gaugler, der die gesellschaftlichen Folgekosten der Tierhaltung in Deutschland im Rahmen eines Gutachtens der Universität Augsburg untersucht hat. Dabei kam heraus, dass allein die Nitratbelastung jährliche Folgekosten von über zehn Milliarden Euro verursacht, das entspricht einem Preisaufschlag von fast 10 Prozent für konventionelle tierische Lebensmittel und von 4 Prozent für tierische Bioprodukte. Bei dieser Schätzung sind weitere Folgekosten noch nicht einmal berücksichtigt. Auch die versteckten Kosten müssen bezahlt werden Zu den „versteckten Kosten“ zählen Gesundheitskosten durch Stickoxide, Feinstaub und Treibhausgase, die bei der Lebensmittelerzeugung entstehen. Aber auch Schäden durch Bodenabbau und -erosion, Überdüngung von natürlichen Lebensräumen, Lebensmittelabfälle, Antibiotikaresistenzen oder Lebensmittelimporte aus wasserarmen Gebieten gehören dazu. Nicht zu vergessen die Regenwaldvernichtung, der Verlust der Biodiversität (Stichwort Insektensterben) und die Klimabelastung. Mit Ansätzen, die eine derartige Fülle an Faktoren in die Gesamtrechnung hineinnehmen, begibt man sich recht weit ins Reich der Spekulation. Dennoch werden sie immer wieder unternommen, so auch in der britischen Studie „The Hidden Cost of UK Food“. Deren Autoren kommen zum Schluss, dass die versteckten Lebensmittelkosten in etwa ebenso hoch sind wie der an der Kasse zu bezahlende Preis: Zu jedem ausgegebenen Pfund addiere sich ein weiteres an Folgekosten in Form von Steuern, Abgaben und Krankenkassenbeiträgen. Ein Teil der ökologischen Auswirkungen wird zudem auf den globalen Süden und die nachfolgenden Generationen „umgewälzt“. Bei der Präsentation der Studie wurde festgehalten, dass jede Bilanz eines Lebensmittelunternehmens erst dann vollständig ist, wenn sie die Kosten der gesellschaftlichen und ökologischen Schäden mit einschließt. Die Vollkostenrechnung spricht für Bio Einer der ersten Unternehmer, die eine solche Vollkostenrechnung für ihren Betrieb angestellt haben, ist der niederländische Bio-Obst- und -Gemüsegroßhändler Volkert Engelsmann. Ihm zufolge ist jedes Kilo seiner Bioäpfel in der Gesamtrechnung 25 Cent günstiger als ein Kilo konventioneller Äpfel, bei denen Bodenabbau, Pestizidanwendung und Wassernutzung negativ zu Buche schlagen. Die oben erwähnte Studie der Universität Augsburg (Gaugler und Michalke 2017) kommt zu ähnlichen Schlüssen: Würde man alle Folgekosten der industriellen Landwirtschaft in die Kalkulation miteinbeziehen, dann wären Bio-Lebensmittel die preisgünstigere Alternative. Ein österreichisches Diskussionspapier (Schader et al. 2013) veranschlagt die geringeren Kosten mit einem guten Drittel. Die heimischen Landwirte wissen das schon lange: Der Anteil der Bio-Betriebe liegt bei 18 Prozent, 23 Prozent der Agrarflächen werden für ökologische Landwirtschaft genutzt: Damit ist Österreich laut Euro stat EU-weit Spitzenreiter. Sowohl der niederländische Großhändler als auch die österreichische Bio-Landwirtschaft weisen jedenfalls den Weg in Richtung mehr Kostenwahrheit auf den Preisschildern. ▪ Harald Sager Foto: Shutterstock/photo33mm April 2019 — 15

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