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retail 2017-04

— auslage Gegenwind

— auslage Gegenwind für globale Online-Plattformen Amazon & Co. Sind sie zu mächtig? Die Debatte über eine schärfere Regulierung und neue Spielregeln gewinnt an Fahrt. Die Wettbewerbsbehörden verfolgen bereits neue Ansätze. Eine 28-jährige Jus-Studentin hat Anfang des Jahres eine Debatte angeheizt, die die Welt des Handels auf den Kopf stellen könnte. Lina Khan von der amerikanischen Yale University wies in ihrem Artikel „Amazon’s Antitrust Paradox“ auf die atemberaubende Marktmacht des E-Commerce-Riesen hin und plädierte dafür, den daraus entstehenden Mangel an Wettbewerb endlich ernst zu nehmen und Amazon entsprechend streng zu regulieren. Die Forderung stieß auf breites Echo in Politik und Medien. Auch die dominierende Marktstellung anderer Internetkonzerne wie Alibaba und Facebook wird – in den USA ebenso wie der Europäischen Union – immer häufiger scharf kritisiert. US-Senator Bernie Sanders fordert, die Giganten des Internets wie öffentliche Versorger zu behandeln, also etwa wie den Anbieter eines Stromoder Abwassernetzes. Strenge Auflagen stehen im Raum, sogar von Zerschlagung wird fallweise gesprochen. Ist das bloßer Populismus gegen die großen Konzerne oder steckt berechtigte Sorge um den freien Wettbewerb und das Wohl der Konsumenten dahinter? „Man hat das Gefühl, dass diesen Unternehmen ständig zusätzliche Tentakel wachsen, mit denen sie in neue Geschäftsfelder vorstoßen.“ Martin Peitz, Universität Mannheim „Neu ist die Skalierbarkeit“ „Die Skepsis gegenüber den großen Internetkonzernen ist durchaus verständlich“, meint Martin Peitz, Wirtschaftsprofessor an der Universität Mannheim und Direktor des Mannheim Center for Competition and Innovation. Grund für das Unbehagen ist die Kombination von Marktanteil und der Größe des Marktes. Amazon ist nicht bloß in einer abgegrenzten Region tätig, sondern in einem großen Teil der Welt. „Das Neue ist die Skalierbarkeit“, so Peitz, also die Fähigkeit, zu sehr geringen Kosten stark zu wachsen. „In dieser Hinsicht haben wir eine ganz neue Dimension erreicht.“ Es geht nicht nur um die geografische Ausdehnung: „Man hat das Gefühl, dass diesen Unternehmen ständig zusätzliche Tentakel wachsen, mit denen sie in neue Geschäftsfelder vorstoßen. Wo sie dann entweder bestehende Wettbewerber verdrängen oder, wenn sie ein völlig neues Feld erschließen, erst gar keinen Wettbewerb aufkommen lassen.“ Doch wie schädlich ist die Marktmacht der Konzerne? „Sie wird zunächst meist toleriert, man versucht jedoch zu verhindern, dass sie sich verfestigt und auf andere Geschäftsbereiche überträgt“, so Peitz. „Nur der tatsächliche Missbrauch von Marktmacht ist kartellrechtlich problematisch“, betont Sarah Fürlinger von der österreichischen Bundeswettbewerbsbehörde. Ein etwaiger Schaden für Konsumenten ist jedenfalls schwer nachzuweisen: Amazon bietet günstige Preise und tollen Service. Auch bei Facebook loggen wir uns freiwillig ein – und ohne einen Cent dafür zu bezahlen. Doch es ist nicht alles paletti: Das deutsche Bundeskartellamt prüft bereits seit dem Vorjahr, ob Facebook seine marktbeherrschende Stellung missbraucht, um an Nutzerdaten zu kommen. Der EU-Beamte Werner Stengg berichtet wiederum von zahlreichen Beschwerden von kleineren Unternehmen, die ihre Produkte über große Onlineplattformen verkaufen (siehe Interview auf Seite 8). Konkurrenz lauert überall Wie könnte man die Marktmacht überhaupt begrenzen? Ein klassisches Instrument ist die Fusionskontrolle – die bei Amazons organischem Wachstum jedoch nicht greift. Gegriffen hätte es freilich beim Kauf von WhatsApp durch Facebook. Hier zeigte sich ein anderes Problem: „Ein kurzfristig unproblematischer Kauf kann sich als langfristig problematisch erweisen. WhatsApp wäre vielleicht in der Lage gewesen, irgendwann ein alternatives soziales Netzwerk aufzubauen. Facebook hat de facto einen potenziellen Konkurrenten ausgeschaltet“, so Wirtschaftsprofessor Peitz. Generell gilt: „Manche Unternehmen denken überraschend langfristig. Daher ist kurzfristig gar nicht erkennbar, ob Konsumenten geschädigt werden.“ Amazon etwa verzichtet seit jeher auf hohe Gewinne, um durch niedrige Preise und massive Investitionen seinen Marktanteil zu steigern. Auch das ist nicht unbedingt böse, sondern zum Teil schlicht notwendig, etwa im Fall des Onlineverkaufs von Lebensmitteln: Dieses Geschäftsmodell funktioniert nur mit einem hinreichend großen Kundenstamm. Auf der anderen Seite können so jedoch faktische Zutrittsbarrieren für Wettbewerber geschaffen werden, da eine große Zahl an Kunden 6 — Dezember 2017

— auslage Foto: shutterstock/Wisiel besonders günstige Preise ermöglicht. Also vielleicht doch strenge Regulierung à la öffentlicher Versorger? „Diesen Ansatz halte ich für sehr problematisch“, meint Peitz. „Das wäre ein massiver Eingriff in den Marktprozess.“ Das entscheidende Gegenargument: Die Dominanz von Amazon und Co beruht nicht auf einer physischen Infrastruktur wie etwa dem Kanalsystem im Fall des Abwassernetzbetreibers. „Daher stellt sich die Frage, ob die – digitale – Infrastruktur nicht doch durch einen Konkurrenten replizierbar ist.“ Die marktbeherrschende Stellung der Internetkonzerne ist grundsätzlich immer gefährdet. So sei durchaus denkbar, dass sich beispielsweise Walmart auf Dauer gegen Amazon durchsetzen könnte. Innovative Instrumente Gesetzgeber und Wettbewerbsbehörden reagieren auf die neuen Herausforderungen bereits mit Innovationen: So achten die deutschen Kartellrechtsexperten bei Fusionen in Zukunft nicht nur auf die Umsätze, sondern auch auf den Wert des Übernahmekandidaten – was etwa bei WhatsApp relevant gewesen wäre. Auch auf das Konzept der relativen Marktmacht können sie sich mittlerweile berufen – das beschreibt die Situation, wenn ein Unternehmen nicht im kartellrechtlichen Sinn „marktbeherrschend“ ist, sein Einfluss aber doch ein problematisches Ausmaß erreicht. Das neue deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) nennt explizit Netzwerkeffekte als Marktbeherrschungskriterium. Peitz: „Es gibt durchaus die Sichtweise, dass man möglichst frühzeitig und umfassend in den Markt eingreifen sollte. Die meisten Wettbewerbsbehörden tendieren jedoch dazu, vorsichtig vorzugehen. Insgesamt glaube auch ich eher an ein ,Weiter so‘ im Umgang mit den großen Internetkonzernen. Das Ganze ist auch ein großer Lernprozess für Ökonomen wie Behörden.“ ▪ Gerhard Mészáros Gerechte Steuern statt verzerrter Wettbewerb! „Legale Steuervorteile für internationale Onlinehändler setzen den heimischen Handel extrem unter Druck“, sagt Handelsverband- Geschäftsführer Rainer Will. Er fordert drei Maßnahmen: 1) Versteuerung „ab erstem Euro“ bei Einzelpaketversand in die EU, um die Einfuhr wettbewerbsverzerrender Billigware zu verhindern. 2) Europäische Plattformen und Fulfillment-Center sollen die Mehrwertsteuer für ihre Handelspartner aus Drittländern unmittelbar abführen, um Mehrwertsteuerumgehungen zu vermeiden. 3) Einführung digitaler Betriebsstätten, da die heimischen Steuergesetze nicht darauf ausgerichtet sind, Gewinne eines Onlinehändlers ohne physische Präsenz fair zu besteuern. Dezember 2017 — 7

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