Aufrufe
vor 2 Jahren

RETAIL 03/2020

Zeitschrift RETAIL Ausgabe 3/2020 vom österreichischen Handelsverband

ZUKUNFT Billiges Essen.

ZUKUNFT Billiges Essen. Über die Jahre ist mit den Ausgaben für Lebensmittel häufig auch die Wertschätzung für die dahinterstehende Arbeit gesunken. » Wir haben den Anspruch, immer noch frischere Produkte in den Regalen anzubieten. Daher beziehen wir unsere Lebensmittel soweit möglich direkt beim Produzenten und verkürzen damit die Wertschöpfungskette. Dank unserer Eigenmarken können wir schnell auf Trends reagieren und beispielsweise den Verzicht auf Palmöl und Glyphosat sowie die Reduktion von Plastik und Zucker vorleben. Um die Versorgung des Landes langfristig abzusichern, d. h. um Ernährungssouveränität zu erlangen, brauchen wir im Lebensmittelbereich eine Re­Industrialisierung und eine Re­Regionalisierung der gesamten Ernährungskette. « Gerhard Drexel Vorstandsvorsitzender SPAR Österreich Hartwig Kirner, Geschäftsführer von Fairtrade Österreich. „Das hängt meines Erachtens auch mit der Preispolitik des Handels zusammen. Auch wenn es vermutlich nicht die Intention ist: Die aggressiven Preisaktionen gefährden die Werthaltigkeit von Lebensmitteln. Wenn ich plötzlich etwas um die Hälfte billiger bekomme, entsteht der Eindruck, der ursprüngliche Preis sei nicht in Ordnung gewesen“, sagt Kirner. Noch dazu ist der Anteil von Lebensmitteln an den Haushaltsausgaben über die letzten Jahrzehnte hinweg kontinuierlich gesunken: In den 1950er-Jahren gaben die Österreicher fast die Hälfte ihres monatlichen Budgets für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke aus, heute sind es zwölf Prozent. Eine Situation, mit der laut Haraszti auch der Handel zu kämpfen hat: „Wir stehen jetzt vor der Herausforderung, das Gesamtsystem auszubalancieren – zwischen den Erwartungen unserer Kunden, von denen viele sparen müssen oder wollen, und der wirtschaftlich schwierigen Situation unserer Partner in der Landwirtschaft, deren Sorgen wir verstehen.“ LANDWIRTE UNTER DRUCK In der Tat, die Sorgen der Landwirte sind groß. „Seit dem EU-Beitritt stagnieren die Produzentenpreise. Die Teuerung bei den Nebenkosten können die Landwirte nur über Mehrproduktion ausgleichen – das wird auf Dauer nicht gutgehen“, warnt Landwirtschaftskammerpräsident Josef Moosbrugger. Neben dem hohen Preisdruck sieht er ein Problem im hohen Fertigungsgrad der Nahrung: Die Kunden würden nach billigem, schnellem Essen verlangen. Convenienceprodukte seien daher auf dem Vormarsch. Und in Fertigprodukten lasse sich Importware leicht verstecken. Österreich gilt europaweit als Vorreiter in Sachen Umwelt- und Tierschutz. Diesen hohen Standard gibt es nicht umsonst: Er schlägt sich im Preis nieder, der nicht mit dem Weltmarkt konkurrieren kann. Haraszti: „Wir können uns gemeinsam noch so sehr darum bemühen, diesen ‚Wert‘ zu erhöhen: Wenn dann eine Information der Arbeiterkammer veröffentlicht wird, dass in Deutschland die gleichen Lebensmittel billiger sind, ohne die großen strukturellen Unterschiede bei Landwirtschaft, Produktion, Logistik, Lohnniveau und vielem mehr zu berücksichtigen, werden wir mit unseren Bemühungen nur schwer weiterkommen.“ In dieselbe Kerbe schlägt Moosbrugger: „An landwirtschaftliche Produkte aus Österreich werden hohe Ansprüche gestellt, bei importierten Waren scheinen die Herstellungsbedingungen keine Rolle zu spielen. Es braucht einheitliche Standards für alle, nur dann sind wir wettbewerbsfähig.“ Außerdem setze man sich beim Fotos / Unsplash, Spar | evatrifft.com 8 / Q3/2020

163% Aufholbedarf für Österreich WENIGER FLEISCH – MEHR OBST UND GEMÜSE Wie es um unsere Lebensmittel-Selbstversorung bestellt ist. Nur 58 Prozent des Gemüsebedarfs und 71 Prozent des Bedarfs an heimischem Obst werden in Österreich produziert. Gleichzeitig stellt Österreich enorme Mengen an Fleisch her – nämlich deutlich mehr als 300 Prozent der Menge, die für eine gesunde Ernährung notwendig wäre. So wird zu viel landwirtschaftliche Fläche gebunden. Greenpeace fordert daher die Reduktion der Fleischproduktion und des Kraftfuttereinsatzes in der Milchwirtschaft, um Ackerflächen frei zu machen, die bisher zur Produktion von Futtermitteln genutzt wurden. Diese Flächen sollten für den Anbau von Hülsenfrüchten wie Bohnen oder Soja (als alternative Eiweißquellen) sowie von Obst und Gemüse eingesetzt werden. 58% Gemüse 71% Heimisches Obst 83% 85% 90% 109% Kartoffeln Eier Getreide Fleisch gesamt Konsummilch 100% 0% Icons / vecteezy.com Gesundheitsministerium für eine Pflicht zur Herkunftskennzeichnung für verarbeitete Produkte ein, sagt Moosbrugger. Denn auch in österreichischer Markenwurst stecke oft Fleisch aus dem Ausland. Dabei würden regionale Lebensmittel das Klima schützen und Arbeitsplätze und Wertschöpfung in Österreich sichern. HERR DER MARKEN Für den Handel ist die Schaffung von Eigenmarken ein wertvolles Werkzeug, um sich Wertschöpfung zu sichern und unabhängig zu wirtschaften. Sie sind ein wesentlicher Baustein im Geschäftsmodell der Discounter, wie HOFER-Generaldirektor Horst Leitner erläutert: „Unsere starken und unabhängigen Exklusivmarken machen 90 Prozent unseres Produktsortiments und damit den Erfolg von HOFER aus. Darin liegt unsere Stärke und unser Unterscheidungsmerkmal.“ Längst hat das Konzept auch bei REWE und SPAR Fuß gefasst. „Eigenmarken gibt es bei SPAR seit der Unternehmensgründung, aber in den letzten 20 Jahren haben wir richtig Gas gegeben“, erklärt Gerhard Drexel, Vorstandsvorsitzender bei SPAR Österreich. Von 2004 bis heute habe man den Umsatzanteil aus Eigenmarken von 22 auf 40 Prozent erhöht. SPAR bezeichnet diesen Anteil als „Unabhängigkeits index“, da hier die Hoheit über Qualität, Rezeptur und Herkunft beim Unternehmen liegt. Bauernvertreter Moosbrugger steht dieser Entwicklung etwas skeptisch gegenüber: Eigenmarken könnten die Bauern zu austauschbaren Lieferanten degradieren und die Abhängigkeit noch verstärken. „Darum ist das AMA-Gütesiegel so wichtig: Je mehr die Landwirtschaft die Marke selbst in Händen hat, umso weniger sind wir abhängig“, ist Moosbrugger überzeugt. ALTERNATIVE VERMARKTUNGS- WEGE GEFRAGT Immer mehr Produzenten sehen sich nach alternativen Vermarktungsstrategien um und entdecken dabei die Vorzüge des Internets für sich. Hier setzt Theresa Imre mit ihrem Startup an: Seit 2018 betreibt sie die Plattform markta – den laut Eigendefinition „digitalen Bauernmarkt“ für regionale Lebensmittel. Mehr als 450 Hersteller vertreiben hier ihre Produkte, darüber hinaus hat markta auch Gemüsekisten und „Packerln“ zu Themen Vermittlung gefragt HERAUSFORDE- RUNGEN LÖSEN Ombudsstelle für Mediation und Schlichtung initiiert. Bereits 2018 hat der Handelsverband gemeinsam mit dem Landwirtschaftsministerium eine Ombudsstelle vorgeschlagen, um einzelne Herausforderungen auf direktem Wege lösen zu können. An die Ombudsstelle sollen sich betroffene Personen, insbesondere Bauern, aber auch Erzeugerorganisationen und Unternehmen in Zukunft anonym wenden können. Der Handelsverband hofft, dass diese Mediations- und Schlichtungsstelle noch heuer eingerichtet wird. wie Frühstück oder Grillen im Angebot. Die Idee dahinter: „Die Kleinbetriebe haben oft wenig Erfahrung dabei, sich online zu vermarken. Und die Konsumenten haben es nicht leicht, an hochwertige, frische und vielfältige Lebensmittel von kleinen bäuerlichen Erzeugern zu kommen“, sagt Imre. Die Corona-Krise hat dem Unternehmen einen Wachstumsschub beschert: Vorher nahm Imre 150 Bestellungen pro Woche entgegen, während des Lockdowns waren es plötzlich 2.500. Das Unternehmen hat fast 10.000 neue Kunden gewonnen und 80.000 Lebensmittel pro Woche umgeschlagen. Imre: „Es war schwierig, die Kunden zur Verhaltensänderung zu bewegen. Denn Lebensmittel online zu bestellen ist ungewohnt. Durch Corona haben wir endlich die kritische Menge erreicht, sodass sich die Arbeit für alle Beteiligten mehr lohnt und wir Preisvorteile auch an Kunden weitergeben können.“ Markta beliefert die Kunden mit dem „Next Day Fresh“-Service der Post. In Wien gibt es Abholstellen bzw. die Möglichkeit zur Lieferung durch einen Logistikpartner noch am Tag der Ernte. Derzeit bereitet Imre mit ihrem zwölfköpfigen Team die Expansion in weitere Ballungsräume in Österreich vor. / Q3/2020 9

MJR MEDIA

LOGISTIK express informiert Entscheider, Entscheidungsträger aus Industrie / Handel / Logistik über Trends & Märkte und bietet das umfangreichste Informationsportal im deutschsprachigen Raum. Mehr auf logistik-express.com / network.logistik-express.com

transportlogistik.business / ecommerce-logistik.business / mylogistics.business / mobilitaet.business / binnenschiff-journal.at / umwelt-journal.at

© Copyright 2019   |   LOGISTIK express   |   Markus Jaklitsch   |