LOGISTIK express 1/2023 | S4 LEITARTIKEL Wie viele Freihandelsabkommen brauchen wir eigentlich? Ende 2022 waren weltweit 354 Handelsabkommen in Kraft. Nur wenige der Abkommen sorgten dabei für so viel Aufsehen wie TTIP, CETA und jetzt der Mercosur-Handelspakt. Die Befürworter loben die Vorzüge in den Himmel, die Gegner sehen den Untergang der österreichischen KMU. In der Pandemie hat sich gezeigt, jeder ist sich selbst am nächsten, und die Regeln der freien Marktwirtschaft können durchaus ausgehebelt werden. REDAKTION: ANGELIKA GABOR Das erste dokumentierte bilaterale Handelsabkommen bestand 348 vor Christus zwischen Rom und Karthago und brachte erhebliche Nachteile für Rom mit sich. Bis zum ersten bedeutenden multilateralen Handelsabkommen, dem 1948 geschlossenen Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT (General Agreement on Tariffs and Trade, wurde 1995 von der WTO abgelöst, Anm.) gab es hauptsächlich Verträge zwischen jeweils zwei Ländern über gegenseitigen Verzicht auf Zölle. Das erste Abkommen mit der EU als Staatenverbund schloss übrigens die Schweiz, am 1. Jänner 1973 – also vor 50 Jahren. Freihandel oder freier Handel? Auf dem Papier bedeutet Freihandel quasi eine Geschäftsbeziehung zwischen zwei oder mehr Ländern (Vertragspartnern) ohne jegliche Handelshemmnisse oder Bevorzugungen der Akteure. In Wahrheit wird diese Gleichberechtigung auf dem Altar des größtmöglichen Nutzens geopfert, Großkonzerne erhalten Vormachtstellung gegenüber einzelnen Staaten. Die Angst vor Dumpingkonkurrenz und Untergrabung ökologischer und sozialer Standards ist groß. Denn während der Merkantilismus als Vorgänger des Freihandels noch stark auf die positive Handelsbilanz achtete, scheint diese nun an Stellenwert verloren zu haben. Irgendwie auch nachvollziehbar, es ist rechnerisch unmöglich, dass jedes Land mehr exportiert als importiert. Der große Feind des Freihandels ist der Protektionismus, der Schutz der heimischen Anbieter vor der Konkurrenz. Die Theorie des freien Handels klingt ja nicht schlecht: jeder darf seine Waren im gesamten Gebiet anbieten und verkaufen. Jetzt kommt der Haken: was, wenn mein Produkt in der Herstellung 20 Euro kostet, ein identisches Produkt im Handelspartnerland aufgrund wesentlich niedrigerer Löhne jedoch nur 5 Euro kostet? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mein teures Produkt am dortigen Markt platziere – und wie umgekehrt? Schreckgespenst Mercosur-Pakt Mercosur (Mercado Común del Sur, Gemeinsamer Markt des Südens) ist eine internationale Wirtschaftsorganisation in Lateinamerika. Mit Stand 2022 lebten in den Mitgliedsstaaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay etwa 271 Millionen Menschen, wovon gut 215 Millionen in Brasilien zu Hause sind. Die Verhandlungen über die potentiell größte Freihandelszone der Welt mit mehr als 750 Millionen Menschen begannen bereits 1999, liegen aber seit 2019 auf Eis. Durch den Amtsantritt des neuen brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva ist wieder Bewegung in die Sache gekommen. Natürlich schielen etliche schon mehr oder weniger verstohlen „hinüber“, der Wunsch nach neuen Quellen für Rohstoffe und Produkte ist groß. Dass Diversifikation bei der Beschaffung ein doch unerwartet wesentlicher Erfolgsfaktor für ein Unternehmen sein kann, hat uns die Corona- Pandemie gelehrt. Die Gier nach billigen Rohstoffen ist fast so groß wie die (deutsche) Ambition, mehr Autos zu verkaufen. Angesichts des drohenden Verbots für KFZ mit Verbrennungsmotor in Europa durchaus spannend, denn irgendwer muss unsere Autos ja danach noch kaufen. Bei dem Tempo, in dem der Amazonas Regenwald abgeholt wird, haben sie dann genug Platz, um die Autos zu parken. Das ist übrigens einer der größten Knackpunkte: der Amazonas, viel gepriesene grüne Lunge der Erde, wird in rasantem Tempo entwaldet. Laut Deter-Überwachungssystems des Nationalen Instituts für Weltraumforschung (Inpe) wurden im Februar 209 Quadratkilometer Waldfläche vernichtet – das entspricht gut 29.000 (!!!) Fußballfeldern. Durch den Handelspakt würden Agrargüter wie Zucker, Rindfleisch, Soja und Ethanol verstärkt in die EU geliefert werden können – sehr verlockend, noch ein paar Flächen landwirtschaftlich nutzbar zu machen, denn wer braucht schon Regenwald? Das Kapitel Umweltschutz und Nachhaltigkeit wird im vorliegenden Abkommen nämlich zutiefst stiefmütterlich behandelt. Eine Analyse des aktuell im Gespräch befindlichen „Beipackzettels“ zum Handelspakts, durchgeführt von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, zeigt auf, dass die schwerwiegenden Mängel des Abkommens in den Bereichen Klimaschutz, Umweltschutz und Menschenrechte auch durch zusätzliche Vereinbarungen nicht reparabel sind. Europa intensiviert gerade alle Bemühungen, die Klimaziele zu erreichen – und plant ein enges Handelsabkommen mit einer Region, die Elektromobilität wohl nur aus den Medien kennt und keinerlei Anstalten macht, in den kommenden Jahren klimaneutral zu sein. Hinzu kommt, dass das (kurze) Umwelt- und Nachhaltigkeitskapitel des EU-Mercosur-Pakts dezidiert vom Sanktionsmechanismus ausgenommen wurde – Verstöße gegen Umweltauflagen hätten also keinerlei Konsequenzen. Wird wohl nichts mit dem AMA-Gütesiegel für das brasilianische Rindfleisch… In der europäischen Union gibt es teilweise sehr strenge Richtlinien, was den Einsatz von Pestiziden anbelangt. In den letzten Jahren wurden etliche Präparate verboten, die nachweislich die Gesundheit gefährden. Tja, in Südamerika gelten diese Verbote aber nicht, weswegen sie tonnenweise und äußerst gewinnbringend von europäischen Konzernen dorthin exportiert werden. In Brasilien sind mehr als 500 Pestizide genehmigt – rund 150 davon (Stichwort Glyphosat) sind in der EU aus gutem Grund verboten. Diese Chemikalien landen dann über den Umweg der Lebensmittelerzeugung erst wieder auf unserem Teller, und man kann nichts dagegen tun. Die Fronten sind jedenfalls verhärtet. Während die Industriellenvereinigung, die Wirtschaftskammer und die NEOS sich für den Pakt stark machen, sind alle anderen Parteien, der Bauernbund und die Arbeiterkammer strikt dagegen. Auch der heimische Lebensmittelhandel steht dem Vorhaben kritisch gegenüber, allen voran die Supermarktkette Spar, deren Ex-Geschäftsführer Gerhard Drexel es als „Angriff gegen das Weltklima“ bezeichnete. Verstärkter Handel bedeutet mehr Transporte, und das klingt für die Logistikbranche vordergründig nach einem Jackpot. Aber auch diese Medaille hat eine Kehrseite, und spätestens, wenn wir im Winter mit Schirm auf einem aperen Gletscher sitzen, weil durch die komplette Abholzung des Amazonas das Weltklima unwiderruflich aus dem Gleichgewicht gekommen ist, werden alle erkennen, dass Wachstum und Gewinn nicht alles sind im Leben. (AG) ANGELIKA GABOR REDAKTION LOGISTIK EXPRESS
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