LOGISTIK express 1/2021 | S40 Die Lehre, dass Langfristigkeit auch im eCommerce zählt Schon 1997 schrieb Jeff Bezos in einem Brief an seine Shareholder einige Worte, die in der Retrospektive alles erklären: „Amazon.com uses the Internet to create real value for its customers and, by doing so, hopes to create an enduring franchise […] It’s all about the long term. We believe that a fundamental measure of our success will be the shareholder value we create over the long term. This value will be a direct result of our ability to extend and solidify our current market leadership position.” It’s all about the long term – es geht nur um Langfristigkeit. Dahinter verbirgt sich das Grundmuster, nach dem Amazon bis heute operiert und ein weiterer Erfolgsgrund. Als das Internet seinen Siegeszug begann, und noch lange Zeit danach, schauten viele nur nach kurzfristigen Erfolgen, nach dem schnellen Aufblühen eines neuen Unternehmens, mit dem klaren Ziel, es zeitnah zu veräußern und sich als Gründer eine millionenschwere Krone aufzusetzen. Bezos dachte anders. Er wollte kein Unternehmen erschaffen, um es anschließend an den Meistbietenden zu verhökern. Er wollte ein langfristiges, gesundes Wachstum, war daran deutlich mehr interessiert, als möglichst viele Menschen reich zu machen – dass er selbst derzeit an Platz 2 der reichsten Personen hinter Elon Musk steht, hat er genau dieser Denkund Handlungsweise zu verdanken: Am Steuer bleiben, investieren, das eigene Start-Up groß machen. Damit zeigte Amazon, dass es auch in der rasend schnelllebigen digitalen Welt Erfolg bringen kann, nicht in Monaten oder Jahren, sondern Jahrzehnten zu denken und zu handeln. Ein Triebmotor in Sachen Digitalisierung Als Amazon.com im Oktober 1995 online ging, war das World Wide Web seit gerade einmal zwei Jahren vom CERN für die weltweite Nutzung freigegeben. Dementsprechend existierten Ende 1995 lediglich knapp 24.000 Websites (heute sind es 1,8 Milliarden). Allein schon deshalb gebührt Amazon die Ehre eines Early Adopters. Allerdings sind dies nicht die einzigen Meriten, die das Unternehmen sich rund um die Digitalisierung verdient hat: • Das frühe Aufzeigen, dass ein Unternehmen allein in der digitalen Welt bestehen kann, dass es keine analogen Ableger mit Ladengeschäften benötigt. • Der Nachweis, dass dank Automatisierung und digitalisierungsgestützter Vereinfachung sowohl für den Kunden wie den Gewerbetreibenden zahllose Verbesserungen möglich sind. • Die Implementierung von neuen oder fundamental anders gedachten digitalen Vertriebsmodellen wie den Dash Buttons, dem Kindle Tablet oder dem Fire TV. • Der Vorgabe, wie eine den Kunden bevorteilende Shop-Website und die dahinterstehende Customer Journey aufgebaut sein müssen. Amazon machte in seinen Logistikzentren vor, wie KI und Robotik integriert werden können. Das Unternehmen peitscht zudem regelrecht Drohnentechnik voran, um diese auch ohne menschliche Steuerung so zuverlässig wie möglich zu machen. Tatsächlich gibt es praktisch keinen Teilbereich der Digitalisierung, an dem Amazon keine Teilhabe hätte – wie gesagt, nicht nur deshalb, weil das Unternehmen einfach sehr früh loslegte. Entwicklungshelfer, Lehrmeister der Logistik Warum entwickelt sich der Mensch weiter? Weil es immer jemanden gab, gibt und geben wird, der den Status quo nicht akzeptiert. Auch Jeff Bezos gehört zu dieser Kategorie. Als er loslegte, glaubten die meisten Logistiker, dass es unmöglich sei, Waren rascher als binnen mehrerer Tage zum Kunden zu befördern – und dass es für ein Unternehmen völlig unbeherrschbar sei, deutlich mehr als
höchstens einige Tausend unterschiedliche Produkte zu bevorraten. Dann befand Bezos, dass dieser Status quo inakzeptabel sei. In der Folge justierte Amazon so lange, bis sein Warenangebot von Jahr zu Jahr stieg – aktuell verkauft Amazon alleine rund 12 Millionen unterschiedliche Produkte; werden die Marketplace-Verkäufer einbezogen, sind es sogar 350 Millionen. 2005 wurde zudem die Welt der Lieferzeiten auf den Kopf gestellt. Amazon lancierte seinen Prime-Service und garantierte für sehr viele seiner Produkte eine Lieferzeit von maximal zwei Tagen. Heute existiert mit Prime Now sogar eine Lieferung binnen zwei Stunden. Amazon konnte das deshalb, weil das Unternehmen selbst einen gewichtigen Teil seiner Umsätze in die Forschungswaagschale warf und Logistikprozesse so lange optimierte, bis sie passten. Nachdem man erkannt hatte, dass nicht jeder Logistikbetrieb in jedem Land mithalten konnte, begann Amazon selbst, immer mehr Logistikteilbereiche aufzukaufen und selbst zu übernehmen: Eigene Packstationen, eigene Warehouse-Robotik, eigene Lieferfahrzeuge und aktuell eine immer größere Flotte eigener Frachtflugzeuge. Allerdings wirft dieses Vorgehen, so vorteilhaft es für Kunden auch ist, bereits einen Schatten auf den Namen – denn Amazon tendiert laut Kritikern immer stärker dazu, alles, was seine Taktvorgaben nicht erfüllen kann, früher oder später in Eigenregie zu erledigen: „Letztendlich ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis Amazons Paketvolumen so groß ist, dass man die Zustellung komplett in die eigene Hand nehmen und damit Geld verdienen kann. So wie mit allen anderen Dingen auch, die Amazon bislang anfasste. Wenn man jedoch die IT günstiger betreiben kann als Konkurrenten, die Logistik in die eigene Hand nimmt, die Warenhäuser mit eigener Roboter-Technik ausstatten und bei Zulieferer dank schierer Marktmacht große Rabatte aushandeln kann, welche Wettbewerbsvorteile könnten dann noch Konkurrenten ausbilden?“ Goldstandard in Sachen Kundenfreundlichkeit und User Experience Bevor die DSGVO eingeführt wurde, war es bei vielen Onlinehändlern Usus, die Kunden durch eine regelrechte Spießroute von Eingabezeilen zu schleusen, bevor es ihnen „gestattet“ wurde, den Kauf abzuschließen. Bis heute schrecken viele Händler mit weiteren Praktiken ab: • Unübersichtliche Seiten • Limitierte Zahlungsmöglichkeiten • Unkomfortabler Umtausch bzw. Rückgabe • Mangelhafte Produktbeschreibungen Zugegeben, auch bei Amazon ist in dieser Hinsicht nicht alles Gold – vor allem, was die oft schlecht übersetzten Produktbeschreibungen bei Marketplace-Verkäufern anbelangt. Dennoch muss man sich beinahe fragen, warum viele Unternehmen trotz dieser eklatanten Mängel noch bestehen. Denn Amazon markiert für viele schon seit Jahrzehnten den Goldstandard dessen, was B2C-Onlinehandel ausmacht. Auch hierhinter steckt die Neigung des Unternehmens, seine Prozesse aufs Feinste auszutarieren bis sie für den Kunden so komfortabel sind, wie es gegenwärtig überhaupt möglich ist. Egal ob es Retouren sind, der Kontakt bei Problemen oder die möglichen Zahlungsweisen: Amazon fährt eine konsequente Politik, wonach der Kunde nicht nur König ist, sondern eher wie ein Kaiser behandelt wird. Hinzu kommt, dass dies auch den Marketplace-Verkäufern hilft. Sie können Amazons logistische Infrastruktur benutzen, müssen sich selbst nur noch um wenig kümmern. Das kostet zwar, sorgt aber auch dafür, dass große Stücke des Umsatzkuchens bei diesen Händlern ankommen. Amazon: Ein Blick auf die dunkle Seite Dass Amazon fraglos einiges geleistet hat, wurde bewiesen. Allerdings wurde dies alles nach Ansicht vieler Kritiker entweder zulasten anderer erreicht oder sorgte dafür, dass es sich anderweitig negativ auswirkt. Wo viel Licht ist, ist meist auch viel Schatten. Dies gilt auch bei dem ansonsten so strahlenden Handelsriesen.
Laden...
Laden...