INTRALOGISTIK In der Logistik wird zu viel Potenzial verschwendet Österreichs KMU und Logistiker sollten sich schleunigst mit dem Thema Industrie 4.0 auseinandersetzen, rät Professor Wilfried Sihn, Geschäftsführer von Fraunhofer Austria. WILFRIED SIHN Der Hype um das Thema Industrie 4.0 ist in Deutschland schon verflogen, Information und Kommunikationstechniken (IKT) mit physischen Prozessen zu verbinden ist schon Realität und die Umsetzung der dafür notwendigen Maßnahmen längst in Gang, weiß Professor Wilfried Sihn, Geschäftsführer von Fraunhofer Austria Research aus Erfahrung. Er beschäftigt sich mit diesem Thema seit Jahren und ortet hierzulande sowohl in der KMU-Firmenwelt als auch unter den kleinen und mittelgroßen Logistikunternehmen einen großen Nachholbedarf in Sachen Industrie 4.0. Das Thema ist nämlich kein Hype mehr, sondern schon geerdet und sollte von den Unternehmen unbedingt beachtet werden, empfiehlt Sihn. Es gehe darum, Mehrwert für die Kunden zu schaffen, die Wertschöpfung zu erhöhen und damit die eigene Firmenwettbewerbsfähigkeit langfristig abzusichern. „Die Frage, die sich jedes Unternehmen stellen muss, lautet: Wie kann ich meinem Kunden helfen, wir kann ich für diesen einen Mehrwert schaffen“, so Sihn. Er verweist dabei auf das Beispiel des österreichischen auf Hygiene-Produkte spezialisierten Unternehmens Hagleitner, das seinen Kunden längst nicht mehr nur Seifenspender und Handtücher für Hygienebereiche zur Verfügung stellt, sondern das Produkt „umfassende Hygiene“. In diesem übernehmen hochsensible Sensoren die Kontrolle der Funktionstüchtigkeit der Toilette über den Seifen- und Handtuchvorrat bis zur Sauberkeit der Sanitärz-elle insgesamt. Die Sensoren melden an eine zentrale Servicezentrale bei Hagleitner die aktuellen Zustände in Waschräumen oder Toiletten, und somit ist es möglich, jederzeit Handtücher nachzuliefern oder Seifenspender aufzufüllen, den Boden zu reinigen, die Klimaanlage zu justieren und noch andere Dinge mehr. Der Kunde muss sich nicht um diesen Kram kümmern, sondern Hagleitner garantiert dank 4.0 jederzeit voll funktionstüchtigen Hygiene-Bereiche. 4.0 steht simpel für die Ausstattung von Objekten, Maschinen, Produkten, Anlagen, Werkstücken oder Werkzeugen mit künstlicher Intelligenz. Kurzum: Objekte tauschen in echt Informationen aus, treffen eigene Entscheidungen und steuern sich selbst. Sogenannte „cyberphysikalische Produktionssysteme entstehen, jedes Objekt ist dabei eindeutig identifizierbar, jederzeit lokalisierbar und kennt seine Historie, seinen aktuellen Zustand sowie seinen Zielzustand. Mehrwert für den Kunden schaffen Sihn erwähnt auch noch ein anderes Beispiel, was mit Industrie 4.0 möglich wird und den Kundenbedürfnissen entgegenkommt. Der Mähdrescherhersteller Claas etwa entwickelt diese an sich rustikalen Landwirtschaftsgeräte in fahrende High-Tech-Maschinen, die mit immer mehr Sensoren ausgestattet werden, die permanent alle gewünschten Daten vom Raumklima in der Fahrerkabine über die Schneidschärfe der Messer, Reifendruck der Reifen oder zu erwartenden Temperaturen auf dem Getreidefeld an eine zentrale Service- Zentrale von Claas übermitteln, wo sofort auf etwaige Abweichungen von Soll-Zuständen reagiert werden kann. Dank I ndustrie 4.0, sprich optimale Vernetzung von physischen Prozessen mit den zur Verfügung stehenden Informations- und Kommunikationstechnologien garantiert Class seinen Kunden jederzeit einsatzbereite Mähdrescher. „Firmen leben in Kästchen“ und müssten besser heute als morgen ihr bisheriges Agieren und Denken in Frage stellen und sich auf die Entwicklungen von Industrie 4.0 einstellen. Österreichische Firmen können von den Fehlern lernen, die in Deutschland bei der Implementierung von Industrie 4.0 passieren, sieht Sihn die Entwicklung positiv. Seiner Einschätzung nach haben 50 Prozent der KMU schon von Industrie 4.0 gehört, können aber damit noch wenig anfangen. Den anderen 50 Prozent ist das Thema schon bewusst, sie wissen aber noch nicht, wie sie es anpacken sollen, wie sie sich zurecht finden sollen. Jetzt agieren statt später reagieren Sihns Ratschlag: Am besten sei es, sich externe Fachleute ins Haus zu holen und mit ihnen gemeinsam eine Strategie Richtung 4.0 entwickeln. „Ich gehe häufig in Unternehmen und versuche zuerst einmal Verständnis zu schaffen für das Thema.“ Es gehe darum, die Handlungsfelder auszuloten und die notwendigen Maßnahmen in die Praxis umzusetzen. Der Handlungsbedarf richtet sich auf das große Ziel: Wie wird durch die Kombination von IKT und physischer Ablaufprozesse, sprich Produktion oder Dienstleistung dem Kunden ein Mehrwert geboten, den dieser schätzt und per saldo auch honoriert, indem er weiterhin als Kunde bei der Stange bleibt. Nicht nur Firmen aus Handel und Industrie müssten über Industrie 4.0 intensiv nachdenken, sondern Gleiches gelte auch für die Logistik-Branche, die nicht weniger gefordert ist, ihre Kunden mit Innovationen in Form von Mehrwert zu begeistern. Sihn weiß beispielsweise von der Österreichischen Post, dass diese sich Gedanken darüber macht, wie die Briefpost effizient zu Bergbauernhöfen befördert werden kann. Dabei wird sogar an den Einsatz von Drohnen gedacht. Misstrauen in den Griff bekommen Logistiker sollten ihre Lagerbewirtschaftung auf den Prüfstand stellen und sich fragen, welche Auswirkungen Industrie 4.0 auf ihre gegenwärtigen Dienstleistungen haben könnte. Ein Drittel der heimischen Logistiker beschäftigt sich bereits mehr oder weniger intensiv mit den Herausforderungen 4.0, doch bei den anderen zwei Drittel sei Industrie 4.0 noch sehr unterbelichtet. Sihn: „Die Logistiker sollten schleunigst nachdenken, wie sie sich auf die Entwicklung einstellen“, weil sonst könnten sie schneller Kunden verlieren als sie schauen können. Der Experte hat den Eindruck, dass gerade im Supply Chain Management heute viel wertvolle Ressourcen verschwendet werden. Der Weg zwischen Warenausgang und Wareneingang ist eine „Misstrauensstrecke“, die die Akteure in den Griff bekommen sollten. Warum nicht mit offenen Karten spielen und das Misstrauen öffentlich überwinden, fragt Sihn und verweist auf „offene Innovationen“ im Industriebereich, wo via Internet zur Entwicklung eines Autos eingeladen wurde und unterm Strich nicht weniger als 14.000 Ingenieure aus allen Teilen der Welt ihren Input beigesteuert haben. Entstehen würden die Mauern entlang der genannten Supply-Chain durch die Unsicherheit beim Datentransfer. (LE) Indudstrie 4.0 wird gravierende Auswirkungen auf die Logistik-Branche haben. Index Fraunhofer www.fraunhofer.at 24 LOGISTIK express 1|2015 LOGISTIK express 1|2015 25
Laden...
Laden...